Bella Mahnken

Wenn ihr mal wieder alles wollt —
Denkt daran: Weniger ist meistens mehr – das ist Hicksches Gesetz

Ein Wissenshäppchen von Bella Mahnken   |   
28. September 2022   |   5 Minuten Lesezeit

Wenn ihr mal wieder alles wollt

Jeder kennt das Statement der Geschäftsleitung: Wir bieten unseren Kunden Flexibilität bei der Produktwahl. Die Kund:innen von heute wollen doch Auswahl haben. Gut gemeint, aber JEIN! Wenn es darum geht, in einem informationsüberfluteten Zeitalter, in dem Kund:innen sich in High Speed durch die Medien swipen, eine Kaufentscheidung zu fördern, kann zu viel Auswahl dem Geschäft sogar schaden. Dahinter stecken grundlegende Prinzipien der Psychologie und auch ein wenig Einstein-mäßige Mathematik. Let’s dig into that.

Hick’s Law: Die Grundlagen moderner Informationstheorie

Während viele seiner Altersgenossen mit Bingewatching der neusten Marilyn Monroe-Filme beschäftigt waren, führte der britische Mediziner William Edmund Hicks im Jahr 1952 eine Reihe von Versuchen durch, die einen Zusammenhang zwischen Reaktionszeit und der Anzahl an Auswahlmöglichkeiten systematisch erfassen sollten. Er gab Proband:innen eine unterschiedliche Anzahl an Auswahlmöglichkeiten, für die sie sich entscheiden sollten, und stellte irgendwann fest: Je höher die Anzahl, desto länger brauchten die Proband:innen, eine Entscheidung zu treffen. Diese Korrelation fasste er gar in eine mathematische Formel, die besagt: „Wenn die Anzahl der Auswahlmöglichkeiten sich erhöht, steigt die Entscheidungsdauer logarithmisch.“

Hicks-Law_Formel

Um es kurz zu fassen: Je mehr Auswahl er hat, desto länger muss der:die Kund:in überlegen. Wenig wünschenswert, wenn die potenziellen Käufer:innen lediglich eine minimale Aufmerksamkeitsspanne haben und gedanklich eigentlich schon zu Amazon switchen.

Es ist Gesetz: Zu viel Auswahl stürzt alle ins Unglück

Auch andere Experimente geben Hicks recht: Mehr Auswahl bedeutet nicht mehr Umsatz. Das heißt nicht, dass Kunden keine Auswahl möchten. Aber eine maßvolle Zahl stellt das Optimum dar. In einer Feldstudie der University of Columbia präsentierten die Forscher 24 Marmeladengläser an einem Verkaufsstand. Gelegentlich reduzierten sie die Auswahl auf sechs Marmeladengläser. Die erstaunliche Erkenntnis: Zwar hielten bei der größeren Menge mehr Menschen an, um zu schauen (60% nahmen einen kostenlosen Probesnack mit), jedoch kauften nur 3% davon ein Glas. Als nur sechs Gläser präsentiert wurden, hielten zwar nur 40% für eine Probeportion an – davon kauften jedoch 30% ein Glas. Ein Boost in Conversion Rate von dem jeder Online-Shop träumt!

Auch Procter&Gamble stellten in einer Studie fest, dass ihr Umsatz um 10% anstieg, nachdem sie die Auswahl ihrer Head & Shoulders Shampoos reduzierten. Viel Auswahl ist also schön anzusehen, lädt aber nicht zum Kauf ein – warum?

Die Psychologie der Entscheidungsfindung

Hinter unserer Auswahl-Anxiety steckt ein Phänomen, das viele auch “Analysis Paralysis” nennen. Wir kennen diesen Zustand, wenn wir in einem außerordentlich gut sortierten Wein-Restaurant auf die Karte schauen und uns nach wenigen Minuten Intensivstudium dann doch vom Kellner beraten lassen. Oder wir stehen unverhofft vor einem leckeren Imbiss, während unser Zug bald einfährt und rennen dann ohne Zimt-und-Zucker-Crepes davon. 

Zu viel Auswahl setzt viele Menschen unter Stress, aus Angst, die falsche Entscheidung zu treffen – es könnte ja noch etwas besseres im Angebot sein. Noch schlimmer: Zu viel Auswahl stürzt Menschen sogar ins Unglück, denn „die pure Existenz mehrerer Alternativen lässt uns denken, wir könnten die beste Alternative eventuell verpassen – auch wenn diese gar nicht existiert.(…) Am Ende sind wir sogar weniger zufrieden mit der Auswahl, die wir getroffen haben.“ beschreibt Barry Schwartz das Phänomen in “The Paradox of Choice: Why more is less”.

Hicks-Law_Diagramm-paradox-of-choice

UX mit Hicks: Komplexität verstecken

Für Unternehmen, die sehr viel zu bieten haben, gibt es jedoch Hoffnung. Eine gute UX macht es möglich, viele Informationen so darzustellen, dass sie Nutzer:innen nicht überfordern und Komplexität verstecken. Gute Apps, Webseiten aber auch offline Medien arbeiten nach diesem Prinzip: Keep it Short and Simple.

1.) Aufmerksamkeit gezielt führen
Nur weil ein Unternehmen 40 mögliche Tarifkombinationen hat, muss es diese nicht geballt auf der Startseite präsentieren. Wählt das beliebteste Produkt, oder das, was verkauft werden soll und highlightet es. Stellt daneben eine günstigere und teurere Variante zur Auswahl, und schon fällt die Wahl einfacher.

2.) Kategorien schaffen
Amazon, Zalando, Netflix: Sie alle besitzen eine große Menge an Produkten, die nur dadurch navigierbar werden, dass sie in Kategorien eingeteilt werden. Dieses Prinzip lässt sich auf alles übertragen – auch Services lassen sich in sinnvolle Bereiche sortieren.

3.) Kleinere Informationshäppchen bilden
Mehrere Auswahlmöglichkeiten lassen sich auf verschiedene, aufeinanderfolgende Schritte im Kaufprozess herunterbrechen. Dafür analysiert der Designer die Customer Journey und bietet die Information dem Nutzerbedarf entsprechend an.

Für die nächste Website: Keep it simple!

Immer wieder werden wir mit der Entscheidung konfrontiert: Welche Information brauchen die User:innen, welches Angebot treibt den Umsatz in die Höhe? Die Antwort lautet dabei immer: Je weniger, desto besser. Allerdings sollte darauf geachtet werden, dass Texte noch verständlich und Informationen nicht zu abstrakt dargestellt werden. In jedem Fall bewegen wir uns in einem Zeitalter, in dem jeder Mensch am Tag mehr als tausend Micro-Entscheidungen treffen muss – macht ihm zumindest die Entscheidung für euer Produkt so einfach wie möglich.